In dem klassischen chinesischen Werk, Zuo Zhuan, heißt es: „Keiner von uns ist bereits heilig, wer wäre da also ohne Fehler. Wenn Du einen Fehler machst, scheue Dich nicht, ihn zu verbessern, das ist wahre Größe“.
Auch Konfuzius, gefragt, wer sein bester Schüler sei, antwortet: „Es ist Yan Hui, er lässt nie seinem Ärger freien Lauf und begeht Fehler nicht ein zweites Mal.“
Diese Weisheit der chinesischen Antike steht vollkommen im Einklang mit dem buddhistischen Weg. Buddha lehrt uns, wie wir wahres, bedingungsloses Glück erfahren und uns von allem Leiden und Unzufriedenheit (Dukkha) befreien können. Dazu ist es essentiell, die Ursachen des immer wiederkehrenden Leidens zu kennen und sie bei uns selbst, in unserem persönlichen Leben zu identifizieren und daran zu arbeiten, sie zu vermindern. Die Lehre ist eindeutig: Gier (Mögen, Ergreifen), Ärger (Ablehnung), Unwissenheit, Stolz, Zweifel und falsche Ansichten (insbesondere die Anhaftung an ein „Selbst“). Doch so weit ist es nur Theorie. Die eigentliche Aufgabe ist es, diese Gifte in uns selbst zu entdecken, immer genauer hinzuschauen, wie sie unser tägliches Leben dominieren, unsere vielen kleinen Handlungen durchdringen. Das ist der erste Schritt der Praxis.
Wir brauchen die Lehre, um einen Referenzrahmen zu bekommen, dann erst kann die Praxis eine Richtung bekommen. Der wichtigste Aspekt ist die Selbstreflektion.
Wir beobachten unsere täglichen Handlungen von Körper, Sprache und auch unserem Geist. Wenn wir mit dem Referenzrahmen vertraut sind, sehen wir immer mehr Abweichungen davon. Als erster großer Rahmen kann uns die Ethik dienen, die Buddha gelehrt hat, die 5 Silas (nicht töten, nichts nehmen, was uns nicht gegeben wurde, kein sexuelles Fehlverhalten, keine unheilsame Rede (wie lügen, grobe Sprache etc), keinen Alkohol oder Drogen konsumieren).
Dann betrachten wir unsere Handlungen und stellen fest, wir haben viele Fehler gemacht. Was bedeutet Fehler? Alle Arten von Handlungen, die bei genauerer Betrachtung uns selbst oder anderen Wesen geschadet haben und die Konsequenz von Leiden beinhalten.
Wir alle machen täglich viele Fehler, denn unser Geist ist nicht klar. Manche von den Fehlern sind uns selbst klar. Wir haben Menschen schlecht behandelt, belogen, betrogen, Wutausbrüche gehabt, vielleicht Menschen geschlagen, gedemütigt, hintergangen, haben uns etwas erschlichen, vielleicht sogar getötet, haben, überwältigt von unserer Begierde, falsche Entscheidungen für unser Leben getroffen – die Liste ist lang und jeder kann jetzt mal bei sich selber schauen, was da aufpoppt. Vielleicht haben wir auch ein schlechtes Gewissen, es tut uns leid, aber wir können es nicht mehr ungeschehen machen.
Aus Buddhas Lehre wissen wir auch: Alle Handlungen haben Konsequenzen. Es gilt das neutrale Gesetz von Ursache und Wirkung, das Prinzip von Karma. Vereinfacht gesagt: Alles, was wir tun, kommt auch in ähnlicher Form wieder auf uns zurück, wie ein Bumerang – vielleicht in diesem Leben, vielleicht auch erst in einem späteren Leben. Aber der Bewusstseinsstrom, in dem diese karmischen Potentiale gespeichert sind, vergisst nicht. Eines Tages werden die Konsequenzen reifen, und bei den Fehlern sind diese Konsequenzen leidvoll.
Je mehr wir über das Dharma lernen und üben, über uns selbst zu reflektieren, unseren Geist zu schärfen, desto mehr Fehler oder unheilsame Handlungen werden wir bei uns entdecken. Das scheint vielleicht im ersten Moment frustrierend, aber in Wirklichkeit ist es ein Zeichen von Fortschritt. Unser Geist wird feiner.
Wenn Menschen Fehler erkennen oder auf sie aufmerksam gemacht werden, dann reagieren sie gewöhnlich mit folgenden Mustern:
1. Sie nehmen ihre Fehler erst gar nicht wahr. Das bedeutet, der Geist ist einfach sehr tief in der Unwissenheit gefangen, der Geist ist vernebelt und sieht nicht klar.
2. Sie rechtfertigen sich: „Das kann ja mal passieren“, „Das ist ja nicht so schlimm“, „Der andere hat aber auch so was gemacht“, „Meine Eltern haben mich in der Kindheit so und so behandelt“, „Die Gesellschaft ist ungerecht.“
3. Sie rationalisieren ihr Verhalten: „Ich helfe dem anderen, sein schlechtes Karma abzubauen“, „Ich lehre den anderen, was es heißt, so behandelt zu werden.“
4. Sie versuchen, ihre Fehler zu vertuschen, in der Hoffnung, dass es keiner bemerkt und sie den Konsequenzen entkommen können.
5. Sie haben Schuldgefühle: „Jetzt habe ich schon wieder was falsch gemacht“, „Ich bin es nicht würdig, gut behandelt zu werden“, „Ich bin minderwertig.“
Wir können uns jetzt an ein konkretes persönliches Ereignis erinnern und dann schauen, welche Art von Reaktion bei uns im Geist auftaucht. Alle diese Reaktionsweisen sind zwar manchmal nachvollziehbar, aber weltlich. Sie sorgen dafür, dass wir weiterhin ein Leben im Dunkeln und in Verblendung führen und immer wieder neues Leiden für uns kreieren.
Als Praktizierende können wir lernen, anders mit unseren Fehlern und Unvollkommenheiten umzugehen:
1. Wir erkennen unsere Fehler – das ist der erste wichtige Schritt, den wir durch die Übung von täglicher Selbstreflektion immer weiter verfeinern.
2. Sich selbst seine Fehler einzugestehen, sie nicht schönzureden oder Ausreden zu finden. Wenn andere Menschen beteiligt sind, sollten wir unsere Fehler den anderen gegenüber auch zugeben und uns entschuldigen.
3. Der nächste Schritt ist, diesen Fehler aufrichtig zu bereuen. Es tut uns selbst leid, dass wir so gehandelt haben. Diese Reue ist ein heilsamer Geisteszustand.
4. Wir nehmen die Konsequenzen unserer Handlung bedingungslos an. Wir tragen die Verantwortung für unser Handeln und versuchen uns nicht herauszureden. Wenn wir durch unsere Worte eine Beziehung zerstört haben, akzeptieren wir es ohne Groll.
5. Wir bemühen uns, den Schaden wieder gutzumachen, sofern das möglich ist. Wenn wir Tiere getötet haben, schützen wir fortan ihr Leben.
6. Wir nehmen uns vor, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Dieses Lernen ist die große Chance, die wir jedes Mal haben, wenn wir einen Fehler begehen.
7. Wenn wir den Prozess durchlaufen haben, gilt es loszulassen. Nach aufrichtiger Reue ist unser Geist wieder rein, und es ist Zeit, nach vorne zu schauen.
8. Schließlich beschreiben wir das neue Blatt mit heilsamen Handlungen. Wir kultivieren bewusst positives Karma, das uns zu neuer Freude führt.
Dies ist in Kürze der Prozess der wichtigen Praxis von Reue auf dem buddhistischen Weg. In vielen buddhistischen Traditionen gibt es formelle Übungen für dieses Dharmator der Reuepraxis. Im Kloster wird häufig als Teil der Abendrezitation der folgende Vers aus dem Avatamsaka Sutra rezitiert:
„Alles schlechte Karma, das ich seit anfanglosen Zeiten kreiert habe, hat seine Wurzeln in meiner Gier, Ärger und Unwissenheit und entsteht durch die Handlungen von Körper, Rede und Geist. All dieses Karma bereue ich jetzt aufrichtig.“
Dabei kann man vorher über seine Handlungen von Körper, Rede und Geist des vergangenen Tages reflektieren und konkrete Dinge bereuen. Gleichzeitig kann man auch die vielen Dinge aus der Vergangenheit bereuen, derer man sich nicht bewusst ist. Man bringt den Geist der Reue hervor und macht Niederwerfungen vor Buddha.
Diese Praxis kann tatsächlich dazu führen, dass das negative Karma, das in unserem Bewusstseinsstrom gespeichert ist, vermindert wird. Reue ist der einzige Weg, wie das geschehen kann. Denn jede Handlung hat ihr eigenes karmisches Potential, das nicht ausgelöscht werden kann, aber durch tief empfundene Reue transformiert werden kann.
Hier ein Beispiel: Eine Nonne aus einem Kloster wurde mit ALS diagnostiziert. Sie begann als persönliche Reuepraxis täglich Niederwerfungen zu machen – zu jedem Wort im Lotus Sutra eine Niederwerfung mit konzentriertem Geist. In einem Moment der Hingabe hatte sie eine Vision eines früheren Lebens, in dem sie als General ein Dorf vernichtet hatte. In tiefer Reue erkannte sie ihr früheres Leiden. Nach Monaten zeigte sich, dass ihre Krankheit zum Stillstand gekommen war – medizinisch unerklärlich.
Diese Praxis ist kraftvoll. Sie hilft uns, Selbstreflektion und Achtsamkeit zu vertiefen und mit leidvollen Situationen anders umzugehen. Wer lange praktiziert, erfährt auch die Ebene des Absoluten. Im Avatamsaka Sutra heißt es: „Fehlbarkeiten entstehen im Geist und werden vom Geist bereut. Wenn der Geist verschwindet, verschwinden die Fehlbarkeiten ebenso. Geist und Fehlbarkeiten verschwinden und sind beide leer. Das nennt man echte Reue.“
Wenn der denkende Geist losgelassen wird, bleibt reine Bewusstheit – klar, unbewegt, jenseits von Entstehen und Vergehen. Selbst kurze Erfahrungen dieses Zustands zeigen uns, wo unser wahrer Zufluchtsort liegt. Hier beginnt wahrer Neuanfang und echte Reue.
Egal, wie viele Fehler wir gemacht haben – das Wichtigste ist, wie wir jetzt damit umgehen. Wenn wir das Dharmator der Reuepraxis üben, gehen wir den Weg der Klarheit und Reinheit, der uns zu Frieden, Freude und einem echten Neuanfang führt.