Ich fahre die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn. Der Bahnsteig wist voller Menschen, doch sie alle starren wie gebannt auf ihr Handy. Ich laufe an den Menschen vorbei nach vorne, sie wirken wie Zombies. Auch in der vollen U-Bahn stehen sie gedrängt oder sitzen sie und starren auf ihre Handys, ein kleiner Junge lehnt an der Haltestange und schaut gebannt ein Video an, er merkt nicht, dass andere verzweifelt versuchen, ihre Hände an ihm vorbei zu schieben, um sich festzuhalten. Jeder ist gefangen in seiner eigenen virtuellen Welt, nimmt die Menschen um sich herum nicht mehr wahr. Selbst Kleinkinder im Kinderwagen haben bereits ein Tablet vor der Nase, damit sie ruhig sind. Ich frage mich: „Ist das die Gesellschaft, in der wir leben wollen? Ist das ab jetzt die neue Realität des menschlichen Zusammenlebens?“ Ich bin eine der wenigen, die in Bus und Bahn einfach nur da ist, Menschen und Dinge in Echt wahrnimmt – ohne Bildschirm. Ich bin entschlossen, auch weiterhin mein Handy in der Tasche zu lassen, nicht nur für mich, sondern auch, um einen Gegenpol zu bilden und eine leise Botschaft zu senden: „Hey! Hier ist das Leben!“
Als buddhistische Praktizierende wünschen wir uns, achtsamer zu sein, wir machen Sitz- oder Gehmeditation um unseren konfusen Geist wieder zu beruhigen, wir nehmen an Retreats teil, um durch intensive Meditation tiefere Konzentration zu erreichen und der Weisheit und Klarheit die Möglichkeit zu geben, sich zu zeigen. Wir arbeiten daran, unsere Gier, unseren Ärger und unsere Unwissenheit zu vermindern und hoffen, sie irgendwann ganz auslöschen zu können. Wir kennen das Ziel der Erleuchtung, das Samsara, den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten hinter uns zu lassen und zu erkennen, dass es kein eigenständiges Ich gibt. Wir studieren und praktizieren das Dharma, um diesem Ziel näher zu kommen. Einige, wie die Ordinierten, widmen ihr gesamtes Leben ununterbrochen dieser Praxis. Wir praktizieren die Ethik (Silas) um uns selbst und andere vor gegenwärtigem und zukünftigen Leid und Hindernissen zu bewahren.
Doch dann kommt da dieses Ding in unsere Welt, heimlich hat es sich eingeschlichen und einen festen Platz in unserem Alltag eingenommen – das Handy! Anfangs waren wir begeistert, wie praktisch es doch ist, man kann sich mit anderen vernetzen, Bilder verschicken, chatten, Videos schauen, Emails checken, Orte finden, Tickets buchen, Online Bestellungen tätigen, Spiele machen und vieles mehr. Doch so praktisch es auch ist, in relativ kurzer Zeit hat uns dieses sogenannte smarte Ding völlig im Griff. Wir werden hineingezogen in diese vielen bewegten Bilder, warten auf Likes und Kommentare und ehe wir uns versehen, haben wir viele Stunden des Tages vor diesem kleinen Bildschirm verbracht. Ich denke, die meisten von uns haben sich schon oft gedacht, dass wir eigentlich viel zu viel Zeit damit verbringen, wir wollten doch eigentlich etwas anderes machen, doch es fällt so schwer, es einfach mal längere Zeit wegzulassen. Wir kennen sicher auch die Fakten, dass Social Media einen Suchtfaktor darstellen, dass es nicht nur für Kinder schädlich ist, Schlafstörungen, psychische Probleme und soziale Probleme verursachen kann, die Konzentrationsfähigkeit senkt, und die Fähigkeit, sich länger und ausdauernd mit einem Thema zu beschäftigen. Weiterhin enthemmt die Anonymität im Netz und lässt die Kommentare immer aggressiver werden. Wir wollen Freiheit und Meister unseres Selbst sein, doch stattdessen machen wir uns freiwillig zu Sklaven.
Als Praktizierende reflektieren wir ehrlich über unser Verhalten, wir können mal genau beobachten, was dieser Konsum mit uns macht und warum wir immer wieder zum Handy greifen: Einsamkeit, Langeweile, Trostsuche, Ablenkung, innere Unruhe…? Dann erinnern wir uns daran, warum wir eigentlich praktizieren wollen und können sehen, dass die intensive Handynutzung diesen Zielen und Wünschen im Wege steht.
Im Sutra der 42 Kapitel heißt es in Kapitel 26: „Buddha sagt: Keine Art von Begierde ist stärker als Sex. Die sexuelle Begierde kann mit nichts verglichen werden. Glücklicherweise gibt es nur eine solche (starke) Form der Begierde. Wenn es noch eine weitere geben würde, könnte niemand in dieser Welt den Weg verwirklichen (das Samsara überwinden).“ Buddha macht es immer wieder klar, in vielen, vielen Sutren, dass wir nur die Befreiung von allem Leiden, das Ende des Samsaras erreichen können, wenn wir alle Arten von Begierden, ob groß oder klein radikal loslassen und abschneiden. Die schwierigste, die es abzuschneiden gilt, ist die Begierde nach Sex. Darum gibt es ja auch für die Ordinierten die Vinaya-Regeln des Zölibats und die, keinerlei sexuelle Handlungen durchzuführen.
Ich habe mir schon oft Gedanken gemacht, dass es nun mit unserer digitalisierten Welt eine weitere solche starke Begierde gibt, nämlich das Handy. Die Handynutzung stellt ein großes Hindernis in unserer Dharmapraxis dar, selbst wenn wir in diesem Leben nicht das Ziel haben, die Erleuchtung zu erlangen. Wir sagen uns oft, wir hätten keine Zeit zum Meditieren oder um andere Arten der Praxis zu machen, oder wir seien zu müde. Wenn wir aber schauen, wie viel Zeit wir am Bildschirm verbringen, und davon die nützliche Bildschirmzeit abziehen (in der wir wirklich Dinge erledigt haben), dann sehen wir, wie viel unnütze Zeit mit YouTube, TikTok, Facebook, Netflix, Spielen oder Messenger-Chats vergangen ist. Da wäre locker Zeit gewesen, zu meditieren. Aber diese Nutzung macht uns faul, träge und passiv. Es ist bequem, sich einfach nur berieseln zu lassen, anstatt unseren Geist zu fokussieren. Und genau diese Gewohnheit ist tödlich für unsere Praxis. Wir wünschen uns mehr Klarheit, aber stattdessen vernebeln wir unseren Geist für Stunden mit digitalem Müll.
Auch bei interessanten Berichten ist es eine Reizüberflutung. Wir müssen nicht alles wissen, was auf dieser Welt geschieht. Ganz zu schweigen davon, dass der Inhalt vieler Artikel nicht gerade heilsam ist und uns oft mit einem Gefühl der Ohnmacht oder sogar Angst zurücklässt, die wir dann wieder durch weiteren Konsum kaschieren möchten. Wir werden unbewusst auch beeinflusst, je nachdem in welchen algorithmischen Blasen wir uns digital aufhalten. Wir verfallen dadurch sehr leicht in dualistische Sichtweisen und werden weniger kompromissbereit. Das ständige Scrollen macht etwas mit unserem Geist! Jeder Sinneseindruck wird in unserem Bewusstsein gespeichert. Wir meinen, die vielen Dinge, die wir da anschauen seien ja harmlos, aber dabei erkennen wir nicht, welchen großen negativen Einfluss auch die scheinbar unwichtigen Inhalte auf uns haben. Das ist sehr subtil.
Wer einmal ein intensives Meditationsretreat mitgemacht hat, kennt vielleicht diese Erfahrung: Wir schweigen, meditieren für viele Tage, üben, auch in den Pausen ganz bewusst zu sein, lesen oder schreiben nichts, und der Geist wird nach und nach ruhiger. Dann lesen wir doch kurz einen Satz, oder wir hören den Satz des Essensverses und dieser Satz oder nur ein Wort hängt dann in einer Wiederholungsschleife in unserem Geist fest. Ein bedeutungsloses Wort. Das ist Anhaftung. Der Geist will etwas ergreifen und festhalten. Und das Ganze passiert auch im normalen Alltag, nur ist unser Geist viel zu grob, dass wir es direkt bemerken.
Auch der chinesische Philosoph Laozi sprach, ganz im Sinne von Buddha, von der Gefahr der Sinnesreize: „Die fünf Farben machen uns blind, die fünf Töne machen uns taub,…, die Jagd macht uns verrückt“ (Daodejing Kapitel 12). Die Formen, Farben und Töne in unserem Gerät verblenden uns zunehmend, die Jagd ist die Jagd nach neuen interessanten Reels, mehr Likes, emotionalen Kommentaren und vielem mehr. Der Geist wird dadurch zunehmend rastloser, verliert den Bezug zur Realität und wird immer konfuser. Wir sprechen davon, im gegenwärtigen Moment leben zu wollen, doch wir tun genau das Gegenteil.
Buddha lehrt uns, dass sowohl unsere Person als auch die Welt, in der wir leben, eine Illusion sind, wir leben in einem Traum. Buddha, der Erwachte, der vollkommen Bewusste, ist aus diesem Traum endgültig erwacht und sieht die Realität. Der erwachte Geist ist ganz klar und unbewegt, er erkennt die Ursachen und Bedingungen aller Phänomene und kann entsprechend heilsam handeln. Wir alle haben das Potential zu erwachen und es ist ein Geschenk, in diesem Leben als Mensch geboren zu sein und zusätzlich noch das Dharma kennengelernt zu haben. Wir haben die enorme Chance, dieses Potential so gut wir können auszuschöpfen. Wenn wir uns aber stattdessen in die digitale Welt zurückziehen, ist es so, als würden wir in einem Traum im Traum leben, in einer zweiten Schicht der Illusion. Wir blockieren uns damit nicht nur den Weg zur Erleuchtung, zum Erwachen aus diesem Traum, wir verpassen sogar das auf der relativen Ebene reale Leben.
Was also tun?
Wir können mit Hilfe der 6 Paramitas praktizieren, unseren Handykonsum zu reduzieren.
Dana, Großzügigkeit: wir spenden unseren Mitmenschen, Partnern, Kindern, Freunden, Fremden unsere Aufmerksamkeit, wir sehen sie und sind für sie da, wir hören ihnen aufmerksam zu, wir verbringen reale Zeit mit ihnen. Dadurch spenden wir uns selbst auch Qualitätszeit, die uns auch gut tun wird.
Sila, Disziplin: Wir geben uns selbst konkrete Vorgaben, wie wir unsere Bildschirmzeit verringern wollen und üben uns in Selbstdisziplin, uns auch daran zu halten. Beispielsweise: wir schauen unterwegs nicht aufs Handy, sondern stecken es weg in die Tasche, oder wir lassen es auch ganz bewusst mal zuhause. Wir müssen nicht überall und immer erreichbar sein. Wir lassen das Handy in unserem Zimmer, wenn wir mit Freunden oder Familie zusammen sind, essen, Tee trinken, Gespräche führen. Wir richten eine maximale Bildschirmzeit ein. Wir löschen nutzlose Apps wie TikTok. Wir legen immer mal wieder einen ganzen Tag ein, wo wir das Handy gar nicht benutzen.
Ksanti, Geduld, Ertragen: Wir halten die innere Unruhe aus, die uns treibt, auf das Handy zu schauen, oder die Langeweile, die sich einstellt. Das ist ein Prozess, der notwendig ist, sich zu lösen. Stattdessen können wir Dharmamethoden praktizieren, wie Buddhas Namen oder Mantren rezitieren, Gehmeditation machen, oder uns erinnern, ganz achtsam unseren Tee zu trinken.
Virya, Eifer: Wir geben nicht nach und praktizieren diesen Handy-Entzug konsequent.
Dhyana, Konzentration: Durch das Unterlassen der ständigen Berieselung verhindern wir weiteres Nachlassen unserer Konzentration. Wenn wir zusätzlich die Zeit nutzen, wieder Dinge zu tun, für die wir uns konzentrieren müssen, wie Lesen, Auswendiglernen von Dharmatexten oder natürlich Sitzmeditation mit einer konkreten Methode, dann stärken wir unsere Konzentration wieder aktiv.
Prajna, Weisheit: Durch das Weglassen der Berieselung wird unser Geist weniger verwirrt und wir geben uns die Gelegenheit, wieder mehr Klarheit aufkommen zu lassen. Anstatt Social-Media-Reels, Artikel oder Videos zu schauen, können wir uns wieder intensiver mit dem Dharma beschäftigen, Sutren und Dharmatexte lesen und darüber nachdenken. Dharma-Vorträge sollten wir, wenn möglich, in Präsenz anhören, denn auch Dharmavideos können schnell zum Konsumobjekt werden. Wenn wir nicht innehalten, dann können wir das Dharma nicht wirklich aufnehmen, geschweige denn umsetzen.
So können wir uns üben, und dadurch können wir uns wieder mit dem echten Leben verbinden. Dabei hilft es, etwas mit den Händen zu machen, achtsames Abspülen, Kochen, Handwerken, aber auch Sport. Ist es nicht viel schöner, einen Waldspaziergang zu machen, den Boden unter den Füßen zu spüren, die Waldluft zu atmen und unsere Bewegung zu erleben, als nur auf der Couch vor einem Bildschirm zu sitzen? Ein realer Sonnenuntergang hat eine beruhigende Komponente, die wir nur persönlich erleben können. Auch da können wir mal drauf verzichten, sofort ein Bild machen zu wollen, um es dann in der Welt herumzuschicken. Der Mond hat uns so viel zu sagen… wir brauchen nur ganz da zu sein. Wir müssen mehr denn je lernen, innezuhalten, still zu werden und uns nach innen zu richten.
Das wahre Leben ist das Leben mit einem klaren, unbewegten Geist, dieses Leben ist magisch und hat ein endloses Potential. Alle haben wir diesen reinen Geist, es gibt nichts zu erlangen, alles ist schon da. Dennoch verdecken wir dieses Potential ständig und haben keinen Zugang darauf. Dieses wahre Leben ist nicht vergleichbar mit jeglichen Sinnesfreuden des weltlichen Lebens, es hat eine ganz andere Qualität: ruhig, klar und freudvoll, letztendlich unbeschreibbar. Die Praxis lohnt sich und es wäre schade, wenn wir uns nur noch zusätzliche Steine in den Weg legten.
Das Handy an sich ist nichts per se Schlechtes, es kann eine nützliche Wirkung entfalten, aber wie auch für anderen Konsum gilt auch hier: weniger ist mehr. Deshalb gibt es auch in vielen Klöstern einen sehr eingeschränkten Zugang zu jeglichen digitalen Tools, aus Schutz für die Praxis. Wir praktizieren achtsame Enthaltsamkeit in Bezug auf das Handy nicht nur für unsere eigene Praxis, sondern wir sind dabei auch ein indirektes Vorbild für andere Menschen. „Hey! Hier ist das Leben!“
