BUDDHISMUS aktuell: Vielfalt, Diversity – das sind heute für die meisten Menschen positiv klingende Begriffe. In der Realität aber fällt es uns doch oft sehr schwer, andere Menschen wertzuschätzen, wenn sie so anders als wir selbst aussehen, handeln oder denken. Warum fällt uns die Wertschätzung für Unterschiedlichkeit oft so schwer?
Shifu Simplicity:
Wenn wir hier von Vielfalt sprechen, dann meinen wir die unendliche Vielfalt der Phänomene und hier insbesondere die Vielfalt der Menschen. Diese Vielfalt bezieht sich allerdings nur auf einen Teil der Realität, nämlich die sogenannte „relative Wahrheit“. Buddha versucht die Realität in ihren verschiedenen Aspekten zu beschreiben, um ihr gerecht zu werden und Widersprüche zu erklären. Er bedient sich der Einteilung von drei Ebenen, der „relativen Wahrheit“, „Wahrheit der Leerheit“ und der „absoluten Wahrheit“.
Die „relative Wahrheit“ könnte man auch als „weltliche Wahrheit“ bezeichnen. Dies ist die uns vertraute Ebene mit der Welt, wie wir sie kennen. Auf dieser Ebene erscheint diese unendliche Vielfalt von Phänomenen, die alle dem Prinzip von Ursache und Wirkung unterliegen. Die Phänomene entstehen und vergehen entsprechend ihrer Ursachen und Bedingungen, sie sind vergänglich. Was die Menschen anbelangt, entsteht die Vielfalt der menschlichen Manifestationen durch das unterschiedliche individuelle Karma, das jeder in seiner Vergangenheit (in diesem und zahllosen früheren Leben) kreiert hat.
Als unerleuchtete Menschen kennen wir nur diese Ebene und halten sie für die Wahrheit schlechthin. Dabei stellen wir unsere eigene Person in den Mittelpunkt unserer Welt und sind der festen Überzeugung, dass diese Person eine unveränderliche Entität darstellt. Diese Anhaftung an unser Ego führt dazu, dass wir uns nicht nur mit unserem physischen Aussehen sondern auch mit unseren Gewohnheiten und Denkweisen identifizieren. Das ist die „Ich-Illusion“, der wir alle unterliegen.
Diese Anhaftung bringen wir schon mit in dieses Leben, genauer gesagt, ist es auch diese Anhaftung an unser Ego, die bedingt, dass wir überhaupt im Samsara wiedergeboren werden. Jede/r ist sich selbst am wichtigsten, schafft seine eigenen Weltachse und da bleibt es nicht aus, dass andere, die sich den Raum mit uns teilen, wenn sie sich nicht in uns vertrauter Weise verhalten oder sogar aussehen, unser Klesa Ärger auslösen, anderen hingegen fühlen wir uns zugeneigt und es entsteht Gier.
Der unerleuchtete Geist ist immer abgelenkt von Gedanken des Mögens und Nichtmögens, das liegt in der Natur der Sache. Negative Geistesregungen wie Ärger, Hass, Ablehnung oder Respektlosigkeit sind nur einige wenige Beispiele, die nicht nur anderen schaden, sondern mit denen wir auch wieder negatives Karma kreieren, unter dessen Folgen wir selbst dann wieder leiden werden.
Auf der Ebene der „Wahrheit der Leerheit“ sind alle Phänomene frei von einem eigenständigem selbst, alle Menschen frei von einem Ich, es gibt nur noch die Leerheit, die aber nicht zu verwechseln ist mit einem „Nichts“. Die Welt ist nur eine Illusion oder ein Traum. Jemand, der diese Ebene verwirklicht hat, hat keine Anhaftungen mehr und sieht, dass sowohl seine eigenen Person als auch die anderen nur aus den 5 Skandhas zusammengesetzt sind und nicht wahrhaftig existieren.
Dadurch wird er/sie frei von allem Leiden und auch frei von den Wiedergeburten im Samsara.
Die Ebene der „absoluten Wahrheit“ ist frei von jeglicher Dualität (gut/schlecht, ich/andere, eins/viele, groß/klein, sogar Samsara/Nirvana), es ist die Soheit, Tathata, eine absolute Bewusstheit jenseits von sprachlichem oder gedanklichem Ausdruck. Sie umfasst nicht nur die Leerheit sondern auch die wunderbare Funktion des Geistes. Oft wird sie als die Buddhanatur, oder der Dharmakaya bezeichnet. Jeder von uns hat diese Buddhanatur, sie ist die Wesensgrundlage unserer Existenz und gleichzeitig auch die aller Phänomene.
Um die Buddhanatur aller Lebewesen nicht nur theoretisch anzunehmen, sondern tatsächlich zu sehen, zu empfinden, nicht mehr übersehen zu können – wie sollten wir üben, damit das gelingt?
Das Ziel der buddhistischen Praxis ist es, seine eigene Buddhanatur zu erkennen und vollkommen zu verwirklichen. Die vollständige Bewusstheit der Buddhanatur ist damit gleichgesetzt, die Buddhaschaft zu erlangen. Das ist eine persönliche Praxis, der sich jede/r widmen kann, denn das Potential hat nicht nur jeder Mensch sondern alle Wesen in den sechs Daseinsstufen.
Als der 6. Patriarch der Chan Tradition, Meister Huineng als Laie seinem Meister das erste Mal begegnete, fragte ihn dieser, was er anstrebe und er sagte: „Ich habe keinen anderen Wunsch als zu Buddha zu werden.“. Um ihn zu testen, fragte ihn der Meister, wie solch ein unzivilisierter Mensch aus dem Süden zu Buddha werden könne und er antwortete: „Menschen unterscheiden sich durch Norden oder Süden, aber die Buddha Natur ist frei von Nord oder Süd. Obwohl sich der Meister und ich im Aussehen unterscheiden, welchen Unterschied hätte die Buddhanatur!“
Diese Begegnung zeugt von der großen Entschlusskraft und scharfen Weisheit des 6. Patriarchen. Jeder hat die Buddhanatur, aber durch unsere Anhaftungen und wirren Gedanken kann sich diese nicht klar manifestieren. Daher braucht es große Entschlossenheit, sein Leben dieser Aufgabe zu widmen. Das kann nur jeder für sich selbst bestimmen.
Durch die Praxis der Meditation und Bewusstheit im Alltag sowie durch die buddhistischen Lehren lernen wir, wie man seiner Affenhorde im Geist Herr werden kann und seine Anhaftungen lösen kann. Meditation ist dabei unerlässlich, aber allein nicht ausreichend. Ein Leben mit wenig Ablenkungen und ein reiner Lebenswandel sind weiterhin notwendig um tiefere Erfahrungen der „absoluten Wahrheit“ zu machen.
Auf dieser absoluten Ebene gibt es dann keine Dualität zwischen mir und anderen mehr, die Vielseitigkeit ist nur ein Traum, nicht mehr wichtig.
Auf der relativen Ebene kann man sich gleichzeitig immer wieder bewusst machen, dass alle Menschen Buddhanatur besitzen. Wir können uns auch das Leiden der Menschen bewusst machen, um mehr Mitgefühl zu kultivieren. Dabei kann man versuchen, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen.
Wir sollten uns auch immer wieder klar machen, dass wir an unseren Gewohnheiten anhaften und diese nur eine Illusion sind. In der Begegnung mit anderen Kulturen oder einfach Menschen mit anderen Gewohnheiten können wir uns spiegeln und unsere eigenen Gewohnheiten besser erkennen. Danach können wir daran arbeiten, sie abzubauen und offener und gelassener zu werden.
Dies ist auch ein Grund, warum Mönche und Nonnen traditionell in Gemeinschaften leben. So werden sie mit ihren eigenen Schwächen konfrontiert und können nicht ausweichen, sind gezwungen, sich selbst zu verändern. Es ist wichtig zu verstehen, dass es darum geht, sich selbst zu verändern und nicht darum, andere zu Veränderung anzuhalten.
Auf der relativen Ebene bemühen wir uns um ein positives Handeln von Körper, Rede und Geist. Wir vermeiden dadurch, dass Leiden für andere entsteht und kreieren weiterhin positives Karma für uns selbst. Dazu hat der Buddha viele Ratschläge gegeben, wie die Silas (ethischen Grundsätze) zu praktizieren, Toleranz und Respekt zu kultivieren und viele andere.
Tugenden wie Respekt und Dankbarkeit sind wichtige Übungsfelder. Es fängt damit an, seine Abneigung gegenüber anderen abzubauen, nicht immer Recht haben zu wollen, auch wenn die anderen sich nicht immer ideal verhalten. Unser Herz wird sich aufgrund dieser Übungen erweitern und wir können an das große Bodhisattva Gelöbnis denken, einerseits die Buddhaschaft anzustreben und gleichzeitig allen Wesen bedingungslos zur Befreiung von Leiden und zur Erleuchtung zu verhelfen.
Wenn wir das täglich tun, werden wir eine Veränderung in unseren Anschauungen feststellen. Es ist wichtig, seine Abneigungen zu erkennen und bewusst daran zu arbeiten, sich dem innerlich entgegenzusetzen und es sich nicht von Kritik oder Abneigung dominieren zu lassen.
Aber muss man nicht manchmal auch Grenzen ziehen und jemandem signalisieren, „bis hierhin und nicht weiter“…?
Natürlich werden wir in unserem Leben auch häufig Personen begegnen, die sich nicht optimal verhalten. Mitgefühl mit anderen zu haben, bedeutet nicht, immer weich zu sein und alles bei anderen durchgehen zu lassen. Genauso wie Eltern ihre kleinen Kinder lieben, aber dennoch zum Wohl der Kinder auch mal streng sein und durchgreifen müssen.
Wir sind verständnisvoll und bemühen uns tolerant zu sein, aber dennoch weichen wir nicht von unseren ethischen Grundsätzen ab und müssen andere oberflächlich betrachtet auch einmal ablehnen. Wir versuchen dabei jedoch möglichst diplomatisch und geschickt zu sein, dass der andere nicht verletzt wird. Buddhist zu sein, heißt nicht, alles durchgehen zu lassen.
Wir können versuchen, unsere Einsichten zu teilen, aber wenn es auf Unverständnis stößt, ziehen wir uns zurück, denn die Bedingungen sind unzureichend.
Im schwierigen Umgang mit anderen müssen wir aber auf der Hut sein, dass unsere eigenen Klesas (Trübungen des Geistes) wie Ärger und Ungeduld nicht die Oberhand gewinnen. Streitigkeiten sind keinesfalls der ideale Weg.
Während wir jemandem Standhaftigkeit zeigen müssen, ist eine große Ehrlichkeit uns selbst gegenüber notwendig. Wir sind nicht perfekt, können aber auch im Nachhinein die Situation nochmal kontemplieren und schauen, wie wir vielleicht weiser gehandelt hätten. Diese Art der Kontemplation trägt dann dazu bei, dass wir beim nächsten Mal achtsamer sind.
In der buddhistischen Praxis geht es nicht um die Betonung der Vielfalt, sie ist hingegen ein bedingtes Phänomen und daher normal. Es geht vielmehr um die Kultivierung von Mitgefühl und der Realisierung der absoluten Wahrheit jenseits der Dualität von mir und anderen.
Ich persönlich bemühe mich, nach dem Motto zu leben, „alle Wesen sind meine Freunde“. Das ist oft herausfordernd, doch ist es für mich eine wertvolle und sehr bereichernde Praxis, die mir hilft, meinen Geist für alle Wesen zu öffnen.
