Als normale, unerleuchtete fühlende Wesen machen wir in unserem Geist laufend Unterscheidungen wie „Freund“ und „Feind“, „mögen“ und „nicht mögen“, „ergreifen“ und „ablehnen“. Das sind unsere gewohnten, häufig unbewussten, Denkmuster. Die Praxis der vier unermesslichen Geisteszustände, auch genannt die vier Brahmaviharas, ist eine Übung, diese Unterscheidungen zu überwinden und großes Mitgefühl zu kultivieren.
Im Avatamsaka Sutra heißt es: „Die Essenz aller Tatagathas (vollkommen erleuchteten Buddhas) ist großes Mitgefühl. Inspiriert durch fühlende Wesen entsteht in ihrem Geist großes Mitgefühl; aufgrund dieses Mitgefühls bringen sie Bodhicitta (die Aspiration zur vollkommenen Erleuchtung) hervor, und aufgrund ihres Bodhicittas verwirklichen sie die vollständige Erleuchtung.“
Angenommen wir könnten die Unterscheidung von „Freund“ und „Feind“ in Gleichmut verwandeln, dann wäre unser Geist ungehindert und unermesslich weit. Um diesen Zustand zu erreichen, praktizieren wir die verschiedensten Methoden der Meditation über liebevolle Güte und Mitgefühl, wie die Metta Meditation oder die vier grenzenlosen Geisteszustände. Das Ziel ist, unsere Anhaftungen aus der Vergangenheit und Gegenwart aufzulösen.
Bereits seit der Vergangenheit haben wir die Vorstellung, dass manche Menschen uns nahestehen, wir sie mögen, gegen andere eine Abneigung empfinden und sie uns feindlich gesinnt sind. An diesen Vorstellungen halten wir dauerhaft fest. Durch die Praxis des Mitgefühls lassen wir diese Vorstellungen los und lassen stattdessen in unserem Geist bedingungslose liebende Güte und Mitgefühl sowie Gleichmut entstehen. Wir kehren zu einem Geist ohne „mögen“ und „nicht mögen“ zurück.
Im Mahayana Buddhismus ist die Kultivierung von Mitgefühl nicht in erster Linie mit dem Ziel verknüpft, Verdienste zu kultivieren und so schnell wie möglich dem Zyklus von Samsara (Kreislauf der Wiedergeburten) zu entkommen, denn wenn man die drei Welten (Welt der Begierde, der Form und der Formlosigkeit) hinter sich lässt, kann man nicht mehr als tugendhaftes Beispiel vorangehen und anderen Wesen zur Erleuchtung verhelfen.
Die Praxis von Mitgefühl hilft zwar dabei, Verdienste zu kultivieren, aber der Hauptzweck ist das Helfen von anderen Wesen. Wenn man sein eigenes Herz erweitert, einen Geist frei von Hindernissen und mit Gleichmut gegenüber „Freund“ und „Feind“ hat, kann man andere anziehen, und die Bedingungen ihnen zu helfen werden geschaffen.
Dabei wird der eigene Geist gereinigt und das Ego aufgelöst. Somit dient diese Praxis sowohl der eigenen Weiterentwicklung als auch der Hilfe von anderen.
Die Praxis von liebender Güte, Mitgefühl, Freude und Gleichmut ist eine Praxis, die sich auf die Verwendung der Sinnesorgane stützt, um die „Knoten“ in unserem Geist zu lösen. In der Vergangenheit waren es die getrübten sechs Sinnesorgane, die im Kontakt mit den sechs Sinnesobjekten die sechs Sinnesbewusstseine entstehen ließen und dadurch „Knoten“ (wie zum Beispiel Anhaftungen von mögen und nicht mögen oder unser Ego) im Geist bildeten.
Jetzt nutzen wir genau diese Sinnesorgane und sogar die 18 Dharmawelten, aber mit einem Geist von Gleichmut. Wenn wir andere Wesen sehen, wünschen wir nur, dass sie Freude, Ruhe und Gelassenheit erleben mögen, dass sie sich von der Nahrung der Konzentration ernähren und mit Dharma Freude erfüllt sind. Das ist eine Art von Kontemplation des Mitgefühls.
Es gibt zwei verschiedene Ansätze, wie wir die vier grenzenlosen Geisteszustände praktizieren können. Der erste ist ein konzeptueller Ansatz, bei dem wir nur an die Menschen denken. Der zweite Ansatz arbeitet mit der Visualisierung von Personen und Wesen. Wir stellen uns unsere geliebten Menschen bildlich vor und gehen dann weiter bis zu Menschen, mit denen wir Schwierigkeiten haben.
Die genaue Anleitung zu der Meditation würde hier zu weit führen. Wir stellen uns den Menschen zum Beispiel vor, wie er oder sie lächelt, und kultivieren dabei liebevolle Güte, wir stellen uns ihr Leiden bildlich vor und kultivieren Mitgefühl. Dabei ist es außerordentlich wichtig, dass wir uns die ganze Zeit bewusst sind, dass diese Bilder nur eine Illusion sind.
Wenn wir sie für echt erachten, entstehen Hindernisse im Geist, und wir werden zum Beispiel mitgerissen von Traurigkeit. Die Samen der anhaftenden Liebe können in uns erwachen und unser Geist wird aus der Ruhe gebracht. Das wäre ein ungewollter Effekt der Praxis. Deshalb muss uns jederzeit klar sein, dass diese Bilder nicht real sind.
Um dieses zu verinnerlichen lassen wir am Ende der Meditation für ein paar Minuten alle Bilder und Gedanken los und verweilen nur auf unserem bewussten Geist, ohne Objekt. Dies gilt auch für andere Meditationsthemen.
Die Gedanken der meisten Menschen kreisen unbewusst immer wieder um Themen wie Sympathie und Antipathie zu Menschen, Sorgen und Probleme, Liebesleben, Eifersucht, Feindseligkeiten und vieles mehr. All dies sind unreine Gedanken. Wenn wir bei der Praxis solche Gedanken bemerken, sollten wir sie sofort stoppen und zur Methode zurückkehren.
Wenn wir uns nicht korrigieren, dann drehen sich unsere Gedanken ständig im Kreis und wir werden immer verwirrter, immer gereizter. Unser Geist wird krank, und wir können ihn nicht gut meistern. Selbst wenn wir besondere Erlebnisse in der Meditation hätten, wären sie Anzeichen von Mara (dem Unheilsamen). Deshalb ist es sehr wichtig, unseren Geist rein zu halten, rein von Gier, Ärger, Unwissenheit, Stolz, Zweifel, stattdessen den Geist mit Mitgefühl, Respekt, Dankbarkeit und anderen Tugenden zu füllen.
Wenn der Geist rein ist, kann sich reine Weisheit manifestieren.
Liebende Güte
Obwohl wir alle in unserem Geist liebende Güte besitzen, ist es nicht einfach, diese manifest werden zu lassen, wenn wir sie nicht aktiv nähren. Die Kultivierung von liebender Güte kann Ärger ausrotten. Liebende Güte bedeutet, Freude zu schenken, andere Wesen zu lieben und sich zu bemühen, positive Situationen zu schaffen, die anderen nützen.
Dabei wird der Ärger sowohl in uns als auch in anderen vermindert. Wir denken in jedem Moment an andere und nutzen die unterschiedlichsten Mittel, sie zu erfreuen, zu trösten, ihnen Verschiedenes zu spenden oder ihnen anderweitig zu nutzen.
Mitgefühl
Mitgefühl bedeutet, sich des physischen und psychischen Leidens aller Wesen in den 6 Daseinsstufen bewusst zu sein und den Wunsch zu verspüren, dieses Leiden aufzulösen. All diese Wesen waren meine Verwandten, Freunde oder Feinde in früheren Leben. Sie erleiden nun unsägliche Qualen im Samsara.
Bisher waren wir uns dessen nicht bewusst, sahen dieses Leiden nicht, lagen auf der faulen Haut, aber jetzt bereuen wir unsere Indolenz und kultivieren Mitgefühl mit dem Wunsch, all diesen Wesen zu helfen. Wenn wir so praktizieren, können wir nicht nur aktiv das Leiden anderer vermindern, sondern vermindern auch gleichzeitig die Abneigung, Gereiztheit und Ungeduld gegenüber anderen in unserem eigenen Geist.
Freude
Freude bedeutet, dass wir anderen nicht nur erfreuliche Momente bescheren, sondern dass sie eine tiefe Freude und Zufriedenheit erleben können. Die Unzufriedenheit der Menschen zeigt sich oft in ihren Gesichtern oder ihrer gesamten Ausdrucksweise. Durch die Kultivierung von Freude können wir dieser Unzufriedenheit entgegenwirken und Wesen dazu verhelfen, sowohl körperliche als auch geistige Freude zu erfahren.
