Eines der sechs Übungsfelder auf dem Bodhisattva Weg, der sechs Paramitas, ist Ksanti. Man kann Ksanti als Geduld, Toleranz, Aushalten und Ertragen übersetzen und die buddhistische Praxis, vom unerleuchteten Praktizierenden bis hin zum Erlangen der vollen Buddhaschaft in einem Wort zusammenfassen: Ksanti. Ksanti kann in vier verschiedene Stufen unterteilt werden. Erstens wäre da aktives Ertragen, zweitens natürliche Toleranz, drittens Toleranz durch die Realisierung der Leerheit aller Phänomene und viertens die absolute Toleranz eines Buddhas.
Aktives Ertragen bedeutet, unseren Geist in der Auseinandersetzung mit sowohl angenehmen als auch unangenehmen Situationen zu zähmen. Im Diamantsutra heißt es in der Eingangsfrage von Subhuti an Buddha: „Worauf soll der Geist beruhen und wie kann ich ihn zähmen?“ Wenn man jedes Mal um alle kleinen Dinge im Leben einen großen Aufstand machen würde, wegen allem und jedem argumentiert oder sich aufregt, würden diese Situationen nie ein Ende finden. Deshalb ist Ksanti wichtig. Der Ausspruch „Das Weiche überkommt das Harte“ drückt dieses Prinzip ebenso aus wie der Satz eines chinesischen Weisen: „Eine Felswand ragt 1000 Meter in die Höhe, doch Begierdelosigkeit ist wirkliche Stärke; Das Meer nimmt einhundert Flüsse auf, doch Toleranz ist wahre Größe“. Unser Geist sollte weit sein. Dies kann man durch die Praxis des Ertragens üben.
In Gruppen gibt es häufig das Phänomen des Tratschens. Dieses entsteht dadurch, dass die Menschen in den Gruppen nichts ertragen können. Wenn jemand sieht, wie ein anderer etwas tut, das ihm nicht passt, muss er sich sofort einmischen und mit anderen darüber reden. Dieses Verhalten zeugt von einer mangelhaften Fähigkeit zum Ertragen. Angenommen, jemand beschimpft mich und mir liegt schon eine Antwort auf der Zunge: Wenn ich mich in diesem Moment reflektiere und mir sage: „Ich möchte mich jetzt in Ksanti üben. Wie kann ich dann den anderen beschimpfen?!“, dann kann ich meine Entgegnung herunterschlucken und stattdessen schweigen. Das ist aktives Ertragen.
Ein Chan Praktizierender kann in just dem Moment, wo Ärger oder ein anderes Klesa aufkommt, immer die nach innen gerichtete Frage stellen: „Wer ist es, in dem da gerade Ärger aufkommt?“ Wenn man sich diese Frage stellt, dann vergeht der Ärger sofort. Jemand, der Buddhas Namen rezitiert, kann in diesem Moment „Amituofo“ rezitieren und der Ärger wird nicht ausbrechen. Auch darin zeigt sich aktives Ertragen.
Wenn die Übung des aktiven Ertragens langsam zur vollen Reife kommt und der Geist sich immer leichter zähmen lässt, dann kann man zur nächsten Stufe übergehen, zur Stufe der natürlichen Toleranz. Auf dieser Stufe lernt man, sogar eine unangenehme Situation als vorteilhaft zu erleben. Egal was passiert, ob vorteilhaft oder unvorteilhaft, man kann es annehmen, sowie ein süßes Getränk. In der konfuzianischen Schrift der Mitte (Zhong Yong) heißt es: „Wenn man reich ist, verhält man sich einem Reichen angemessen, wenn man arm ist, einem Armen angemessen. Ein guter Mensch ist, ob arm oder reich, gelassen und frei.“ Dies beschreibt die natürliche Toleranz. Wenn jemand mich beschimpft, empfinde ich gar keinen Ärger mehr und lächle nur mit Toleranz. Wenn man das erreicht, ist man in seiner Praxis weit fortgeschritten. Wir müssen uns dabei aber immer selbst reflektieren.
Wenn wir zum Beispiel in der Meditation das Gefühl haben, dass wir schon weiter gekommen sind und über eine gute Praxis verfügen, aber dann beschimpft uns jemand und wir regen uns auf und womöglich ist unser Geist nach ein bis zwei Tagen immer noch aufgewühlt, wenn wir an die Situation denken, dann wissen wir, mit unserer Praxis ist es noch nicht so weit her. Deshalb ist es wichtig, immer uns selbst zu reflektieren und uns zu fragen, ob noch Ärger und Stolz in uns sind. Erst wenn dem nicht so ist, kann ich sagen, dass ich über eine gute Praxis verfüge. Wir müssen schauen, ob wir etwas aushalten können, wenn uns jemand etwas sagt, ob wir dann wirklich einen ruhigen, unbewegten Geist haben und unser Geist dabei ganz klar ist. Erst darin zeigt sich eine gute Praxis. Wenn uns das noch nicht gelingt, befinden wir uns noch auf der Stufe des aktiven Ertragens.
Ksanti kann auch nach dem Objekt dessen, was ertragen wird, unterteilt werden. Auf der einen Seite wäre da das Ertragen von Situationen, die durch andere Wesen verursacht werden, und auf der anderen Seite Situationen, die nicht durch Wesen verursacht werden. Durch Wesen verursacht, sind einerseits Wesen im Außen, andererseits aber auch die eigenen Gedanken und Gefühle. All das müssen wir lernen zu ertragen.
Die Situationen können dabei sowohl angenehm als auch unangenehm sein. Zum Beispiel sollten wir unseren Geist beobachten, wenn uns jemand mit sehr viel Respekt begegnet und uns etwas schenkt. Wenn wir dabei Stolz verspüren, denken wir, wir verfügen über eine gute Praxis und sind im Taumel der Selbsttrunkenheit. Wenn wir das nicht bemerken, ist das eine Form des sich gehen Lassens und auch der Indolenz und wir kreieren negatives Karma.
Aus welchem Grund ist dem so? Wenn es uns nicht gelingt, solche angenehmen Situationen zu ertragen, dann wird es uns noch weniger gelingen, keinen Ärger zu entwickeln, wenn uns jemand beschimpft oder sich über uns lustig macht. Es kann auch sein, dass wir uns dann beschweren oder sogar Feindseligkeiten entwickeln.
Menzius sagte: „Wenn man reich ist, darf man nicht huren, wenn man arm ist, darf man nicht von seiner Ethik abkommen und wenn man Macht hat, darf man niemanden unterdrücken. Das sind die Merkmale eines Edlen.“ Wenn man Macht und Ansehen genießt, sollte man es nicht ausnutzen. Man sollte damit nicht angeben und seine Position missbrauchen oder stolz entwickeln. Das ist jedoch nicht einfach.
Wenn man in einer solchen Situation nicht ertragen kann, dann lebt man seinen Reichtum aus, isst, trinkt und vergnügt sich in sinnlicher Freude und kreiert dabei negatives Karma. „Wenn man arm ist, darf man nicht von seinen Prinzipien abkommen.“ Wenn man arm ist, nichts Gutes zu Essen hat, keine gute Wohnsituation hat und sieht, wie andere in schönen Häusern wohnen, tolle Autos fahren und ihren Reichtum zur Schau stellen, dann sollte man sich im Geiste davon nicht beeinflussen lassen.
Armut oder Macht, beides sollte uns nicht von unserer Ethik und Tugend abbringen. In einem Sutra heißt es: „Die Tugend des Ertragens lässt sich nicht durch Askese oder die Praxis der Precepts übertreffen.“ Wenn wir etwas ertragen können, dann wird unser Geist ruhig.
In der chinesischen Geschichte gab es einen Mann namens Zhang Ying. Er arbeitete als hoher Beamter am kaiserlichen Hof. Die Menschen nannten ihn „der gute Zhang“. Eines Tages renovierte ein Nachbar neben dem Heimathaus des „Guten Zhang“ sein Haus und verschob zu seinen Gunsten dabei die Grundstücksgrenze um einen Meter. Die Familie des war aufgebracht und schrieb „dem guten Zhang“ einen Brief in der Hoffnung, dass er einen lokalen Richter bitten würde, diesen Streit zu schlichten.
Nachdem Zhang Ying diesen Brief erhalten hatte, antwortete er nur kurz wie folgt: „Ihr sendet diesen Brief über 1000 Kilometer nur wegen einer Wand? Was hindert Euch daran, eurem Nachbarn diesen einen Meter zuzugestehen. Die chinesische Mauer mit ihren 10000 Kilometern steht bis heute, aber den damaligen Kaiser Qin sehen wir lange nicht mehr.“ Die Familie befolgte den Ratschlag und verfolgte den Streit nicht länger.
Nach einer Weile hörte der Nachbar davon und schämte sich. Er ließ die Mauer abreißen und baute sie an der rechtmäßigen Stelle wieder auf und der Streit war damit beendet. Wenn ein jeder erst mal einen Schritt zurück machen würde, wenn er einer Auseinandersetzung begegnet, wenn er andere tolerieren und etwas ertragen würde, dann wären unsere Interaktionen mit anderen Menschen viel unbeschwerter und inklusiver. Wenn wir zu einer Sache Abstand gewinnen, können wir vieles akzeptieren.
Ein Großteil des Chaos in der Gesellschaft geht darauf zurück, dass Menschen nichts aushalten können und ihrem Ärger sofort Luft machen müssen. Es heißt: „Wer eine Kleinigkeit nicht ertragen kann ist zu großem Unheil fähig.“ Und „wer etwas ertragen kann, trägt Frieden in sich.“ Was die buddhistische Praxis betrifft, ist Ksanti von großer Wichtigkeit. Im Alltag sollten wir, egal ob bei angenehmen oder unangenehmen Situationen, immer in Hinblick auf Ksanti unseren Geist untersuchen. Auf diese Weise werden wir sicher Fortschritte machen.
Was das Ertragen von Phänomenen betrifft, kann man es unterteilen in erstens, Phänomene unseres Geistes und zweitens, äußere Phänomene wie beispielsweise Hitze, Kälte, Hunger, Durst etc. Auch in solchen Situationen sollte unser Geist unbewegt sein und wir sollten uns nicht beschweren. Jedes Mal, wenn wir einen solchen Test bestehen, wird unser Geist etwas ruhiger.
„Die Freude des Chan als Nahrung und von Freude am Dharma erfüllt“ drückt aus, dass der Geist in der Konzentration und in der absoluten Realität verweilt. Hier gibt es weder Hunger, Durst, Alter, Krankheit, Tod oder andere Leiden.
Was sind nun die Phänomene unseres Geistes? Wir müssen die Zustände, die in unserem eigenen Geist entstehen, wie Ärger, Sorgen, Stolz, Lust und andere ertragen und dürfen uns davon nicht in Unruhe versetzen lassen. Jeder Mensch verfügt beispielsweise über Stolz und denkt, dass seine Praxis schon ganz gut ist, wie auch sein Wissen und dass er besser als andere ist. Wenn wir solche Gedanken in uns erkennen, müssen wir auch sie ertragen und dürfen sie nicht ausleben. Auch Lust muss man aushalten.
Wenn wir diese Gier zähmen, dann ist unser Geist ruhig und friedlich. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Geist direkt zu zähmen, dann müssen wir die Kontemplation über die Unreinheit des Körpers praktizieren.
Die dritte Stufe, die Toleranz, welche durch die Realisierung der Leerheit aller Phänomene entsteht, bedeutet, wir haben erkannt, dass alle Dinge dem bedingten Entstehen und Vergehen unterliegen. Draußen mag es heiß oder kalt sein, beides ist jedoch bedingt und von sich aus leer.
So verhält es sich auch mit jemandem, der uns beschimpft. Es gibt niemanden, der uns beschimpft, wie es auch kein Schimpfen gibt. Dabei wissen wir, dass alles nur bedingtes Entstehen ist und in diesem Moment leer. Verwirklicht man die Leerheit, verwirklicht man auch diese Stufe der Toleranz.
Die vierte Stufe ist die absolute Toleranz eines Buddhas. „Wenn entstehen und vergehen erloschen sind, manifestiert sich das absolute Erlöschen“. Dieser Zustand ist die höchste Wahrheit. Ertragen, ohne zu ertragen. Jemand beschimpft mich, oder jemand lobt mich, alles ist wie weiter Raum, oder auch wie ein Spiegel, in dem die Bilder keine Spuren hinterlassen.
„Kommt ein Chinese, zeigt sich ein Chinese, kommt ein Mongole, zeigt sich ein Mongole“. Der Geist ist davon unberührt, absolut ruhig, jenseits von entstehen und vergehen. Der Geist hat ein grenzenloses Leben und grenzenloses Licht (zwei Attribute mit denen Amitabha Buddha beschrieben wird). Das ist Bodhi, das ist Nirvana, die Frucht des nicht geboren Werdens.
Ein Bodhisattva kultiviert das Ksanti Paramita. Er bewahrt in Anbetracht von sowohl angenehmen als auch unangenehmen Situationen immer einen unbewegten und friedlichen Geist. Dieser Geist ist absolut klar.
Im Plattform Sutra heißt es: „In Anbetracht von Gegebenheiten keinen Gedanken von Mögen oder Nicht-Mögen aufkommen lassen, in der Essenz keinen Gedanken von Unterscheidung hegen, das ist das höchste Glück.“ Wenn wir etwas im Außen sehen, dann lassen wir keinen Gedanken von Mögen oder Gier aufsteigen.
Der Geist, mit dem ich diese Dharma Rede halte, der Geist, mit dem ihr dieser Dharma Rede zuhört, ist der wahre Geist. Genau auf diesem Geist beruhen wir. Das ist rechte Achtsamkeit. Hierauf beruhen wir und lassen uns nicht ablenken. Dieses Beruhen müssen wir auf eine immer längere Zeitdauer ausdehnen. Das ist wahres Glück. In diesem Glück kann uns niemand etwas anhaben.
Um diesen Geisteszustand zu erreichen und lange darauf zu beruhen, brauchen wir die Praxis von Ksanti.
In der Praxis gibt es ein Subjekt und ein Objekt, nämlich der Geist, der Aushalten praktiziert, und die Situation, die ausgehalten wird. Von den Situationen wiederum, die ausgehalten werden, sind einige angenehm, andere unangenehm. In den angenehmen lassen wir keine Gier oder Anhaftung entstehen, in den unangenehmen bleiben wir auch unbewegt.
Wir bedienen uns der Prajna Weisheit und erkennen, dass alle Phänomene dualistisch und relativ sind. Kein einziges Phänomen ist absolut, angenehm und unangenehm sind nur eine Illusion. Da sie illusorisch sind, müssen wir uns nicht um sie kümmern!
Wenn wir aber an etwas anhaften, das illusorisch ist, verlieren wir unsere Weisheit und Konzentration und verlieren die Natur unseres Geistes. Ein Moment der fehlenden Bewusstheit und schon sind wir ein normales, unerleuchtetes Wesen.
Deshalb sollten wir unsere wahre Natur ständig aufrechterhalten, unsere Buddha Natur oder Soheit beschützen. Im höchsten Geisteszustand lassen wir auch das Subjekt, den beschützenden Geist los und erfahren die absolute Toleranz. Erst darin zeigt sich die wirkliche Befreiung, das wirkliche Erreichen des anderen Ufers (des Nirvana).
